Krabbelgeher – Atavismus als Missing-Link?

Vierfußgang

Unglaublich, aber wahr: es gibt Menschen, die Krabbeln als ihren Bewegungsstil leben. Statt aufrecht zu gehen, krabbeln sie. Nicht absichtlich oder angelernt, sondern von Natur aus. In meist abgeschiedenen Regionen leben einzelne Familien in der Türkei, im Irak, in Brasilien und Chile, die sich wie Primaten auf allen Vieren bewegen. Erstmals aufgefallen ist dies bei einer türkisch-kurdischen Familie mit geistig beeinträchtigten Geschwistern im Alter von 18-34. Alle sind sie nicht im Stande, dauerhaft auf zwei Beinen zu gehen. Man meint einen Blick in evolutionär längst vergangene Zeiten zu erhalten – doch diese Menschen laufen nicht wie heutige Primaten auf ihren Knöcheln, sondern auf ihren Handballen. Anthropologen vermuten, dass diese ungewöhnliche „Gangart“ mit nach oben abgespreizten Fingern, unseren prähominiden Vorfahren erlaubte, ihre empfindlichen Finger für feinere Tätigkeiten unbeschadet zu halten. So stellte sich überdies Frage, ob dies ein Atavismus sei, wo ein Gendefekt eine Reaktivierung archaischer Verhaltensmuster bewirkt oder, ob psychosoziale Faktoren dieses eigenwillige Verhalten bewirkt haben. Der deutsche Genetiker Stefan Mundlos fand bei dieser ersten Familie einen Defekt am Chromosom 17. Jedoch schränkte der Wissenschaftler ein, dass man nicht 20 Millionen Jahre Evolution mit einem einzigen Gen rückgängig machen kann. Mittlerweile sind fünf weitere Familien, die auf allen Vieren laufen, bekannt. Bei der Untersuchung des Erbguts von zwei dieser Familien konnte eine türkischen Arbeitsgruppe in Ankara zwei Mutationen im VLDLR (very low-density lipoprotein receptor)-Gen nachweisen. Mit ihnen gemeinsam tritt eine Kleinhirnhypoplasie auf, die eine cerebrocerebelläre Funktionsstörung mit Beeinträchtigung der Neuroblastenmigration bewirkt. Dabei soll es zu einer abnormen Strukturbildung im Hirn kommen, die unmittelbar mit der Fähigkeit zum aufrechten Gang zu tun haben soll. Dieser Schlussfolgerung hielten Mundlos et al. entgegen, dass eine irakische und drei der türkischen Familien die VLDLR-Defekte nicht aufgewiesen haben – man könne daher schwer dieses Gen zum Keyplayer der Gangregulation machen. Weiters gehen einzelne der Hutterer – einer emigrierten Tiroler Glaubensgemeinschaft wie die Amischen in Nordamerika – mit exakt den gleichen VLDLR-Veränderungen aufrecht wie alle anderen Menschen. Auch wenn der exakte Mechanismus noch ungeklärt ist, verbleibt das Faszinosum an den Kern des aufrechten Ganges heranzukommen – wer weiß, was die Zukunft bringt!

Roland Sedivy (* 9. Mai 1963 in Wien) ist ein österreichischer Universitätsprofessor für Pathologie, Medizinrechtsexperte, Autor sowie Lebens- und Sozialberater. Sedivy war von 2007 bis 2016 Leiter der Klinischen Pathologie des Landesklinikums St. Pölten und bis 2019 stv. Chefarzt der Kantonspathologie Münsterlingen (Schweiz). Danach bis 2023 Vorstand des Instituts für Klinische Pathologie, Molekularpathologie und Mikrobiologie der Klinik Favoriten, dem früheren Kaiser Franz Josef-Spital, einem akademischen Lehrkrankenhaus der Medizinischen Universität Wien. Zeitgleich auch Vorstand des Institutes für Pathologie und Mikrobiologie der Klinik Landstraße (früher Rudolfstiftung). Außerdem war er von 2011 bis 2015 Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Klinische Pathologie und Molekularpathologie. Als Universitätsprofessor war Sedivy an der Danube Private University in Krems im Fach Allgemeine Pathologie und Oralpathologie und an der Karl Landsteiner Universität in St. Pölten für Klinische Pathologie tätig. Seit 2019 lehrt Sedivy an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien und wurde 2023 auf den Lehrstuhl für Klinische Pathologie und Molekularpathologie berufen.