Der Pathologe weiß alles, auch ohne Skalpell !

Der PathoBlogger b

Von der Zellularpathologie zur digitalen in-vivo-Morphologie. Jubiläumsausgabe Ärztemagazin August 2011

Als Rudolph Virchow 1855 mit seinem programmatischen Aufsatz über Cellular-Pathologie die naturwissenschaftliche Epoche der Pathologie einleitete, erkannte er damals die mikroskopische Morphologie als die Zukunft der Pathologie. Wenn wir uns etwas mehr als 155 Jahre danach die Frage stellen, was ist die Zukunft der Pathologie heutzutage, dann gilt es für die alten Symbole der Pathologie – Skalpell und Mikroskop – neue zu nennen. Womit ist die heutige Pathologie skizzierbar? Die heutigen zielgerichteten Therapien rücken die Morphologie noch stärker in das Zentrum der modernen Tumordiagnostik als je zuvor. Die Bestimmung prädiktiver Marker durch die Molekularpathologie boomt. Während die Bestimmung singulärer Marker zunächst noch dominiert, ist absehbar, dass Gen- und Gewebechips eine Flut an Detailinformation produzieren werden, aus welcher biomathematisch ein Destillat gewonnen werden muss, um eine geeignete Therapie zu bestimmen. Am Anfang der mikroskopischen Pathologie stand das Erkennen von Wachstumsmustern, deren prognostische Einstufung und die Dignitätsbeurteilung anhand morphologischer Kriterien. All das wird nun erweitert mit der molekularpathologischen Erfassung zellulärer Regulationsabläufe und intrazellulärer Signalkaskaden, um therapeutische Targets und/oder Therapieansprechen bzw. Therapieresistenzen zu erfassen.

Das Tätigkeitsfeld der modernen Pathologie erstreckt sich vom HE-Schnitt bis zur Gelbande und zurück. Runde 80% der Mikroskopiebefunde können mit der Übersichtsfärbung und konventionellen Zusatzfärbungen erhoben werden. Im Bereich der onkologischen Pathologie beginnt bereits in der Makroskopie die erste therapierelevante Begutachtung durch sorgfältige Inspektion. Als Beispiel sei hier das Rektumkarzinom genannt. Der Chirurg entfernt präzise mittels totaler mesorektaler Exzision das Malignom. Die fachgerechte Makroskopie mittels Tuschemarkierung und Großflächenschnitten lässt die Vollständigkeit der Resektion so gut beurteilen, dass auf eine adjuvante Radiotherapie verzichtet werden könnte. Die Immunhistochemie ist eine Methode, die bei Rezeptorbestimmungen, Erfassen prädiktiver und prognostischer Marker, Identifizierung des Tumorursprunggewebes, Erkennen von Mikrometastasen und vielem mehr, nicht mehr wegzudenken ist. Molekularpathologisch werden Klonalitätsanalysen bei unklaren lymphoproliferativen Erkrankungen oder Translokationen bei hämatologischen Tumoren bestimmt. Der Nachweis von Hundertschaften an Gendefekten in Tumoren durch die Array-Technologie erlaubt neben Einsichten in die Karzinogenese auch die Korrelation mit Therapieansprechen oder Resistenzbildung. Jedenfalls wird es in Zukunft bei derart komplexen Ergebnissen umso mehr unumgänglich sein, die molekularen Resultate in die morphologischen Befunde zu integrieren.

Die zentrale Rolle der klinischen Pathologie bei der personalisierten Medizin rührt also daher, weil Biomarker einen wesentlichen Einfluss auf die onkologische Therapiestrategie haben. Die Erkenntnis, dass verschiedene Patienten mit der gleichen klinischen bzw. auch histomorphologischen Diagnose unterschiedlich auf ein und dieselbe Behandlung ansprechen können, fordert ein technisches und personelles Aufrüsten, auch wenn dies das Management oft nicht wahrnehmen will. Bedenkt man aber die Kosten der modernen Therapieformen, so erschließt sich von selbst, dass moderne Pathologie hilft, therapeutische Maßnahmen zielgerichteter auf die Bedürfnisse von Patientengruppen zuzuschneiden. Damit unterstützt die heutige Pathologie Therapien, die den PatientInnen einen echten medizinischen Nutzen bieten – sowohl in Bezug auf die Steigerung der Lebensqualität als auch die Optimierung der Kosteneffizienz in der Gesundheitsversorgung.

Dies alles leistet die Pathologie – ganz ohne Skalpell!

Und wohin steuert die Autopsie? Eine Neuerung stellt die Virtopsie dar. Es handelt sich dabei um eine messerlose Autopsie, die unter Verwendung eines künstlichen Kreislaufes ein CT oder MRT anfertigt. In der Rechtsmedizin macht diese Methode bereits Furore. Wird es für die klinische Pathologie auch Anwendung finden können? Projektile finden oder Schusskanäle zu rekonstruieren sind nun mal kein Thema in der Spitalspathologie. Dieser Ganzkörperscan erfasst immerhin den Leichnam von „Scheitel bis zur Sohle“, ohne die Pietät zu verletzen. Skalpell-freie Obduktionen auf DVD sind auch zweifelsohne von hohem, forensischem Wert. Damit wird dem Beweisobjekt Leiche eine zeitgemäße, juridisch geforderte objektive Dokumentation zuteil und sichert z.B. einen postoperativen Situs trotz möglicher Einäscherung eines Toten. Die postmortale Bildgebung erfordert allerdings eine besondere Expertise, um z.B. innere Totenflecken in der Lunge nicht als Pneumonie zu interpretieren. Die virtuellen Befunde können bei Bedarf sogar in ein 3D-Modell umgewandelt werden – Möglichkeiten von der der klassische Obduzent nur träumen kann.

Und was kommt in der Zukunft auf die nicht-autoptische Pathologie zu?

Das Schlagwort lautet: In-vivo-Mikroskopie. Konfokale Reflexionsmikroskopie, Zweiphotonenmikroskopie und optische Kohärenztomographie sind in-vivo-Techniken, die mittlerweile in Teilbereichen Auflösungswerte der klassischen Mikroskopie erreichen. Zellkerne und Zytoplasmen können bis zu einer Tiefe von 100µm beurteilt werden. Bei der Zweiphotonenmikroskopie können aufgrund der Fluoreszenzeigenschaften auch Zellzustände unterschieden werden. So wurden in der Gynäkologie als auch in der Coloskopie Versuche unternommen, dysplastische von regulären Zellen abzugrenzen. Auch diese Techniken sollten keineswegs vom mikromorphologisch ungeschulten Kliniker alleine umgesetzt werden – auch hier gilt der komplexen Situation mit Kooperation und Vernetzung zu begegnen, um sich die jahrhundertelange Expertise der Pathologie zu Nutzen zu machen. So wie bei den Schnellschnitten der Histopathologe in den OP, der Zytopathologe bei der on-site-cytology in den Endoskopieraum gehört, so soll und wird der Pathologe allgemein im klinisch-diagnostischen Bereichen mehr vorort tätig werden (müssen), um unmittelbarer den kurativen KollegInnen zur Seite stehen zu können.

Überdies steht die Mustererkennung mittels fraktaler Analyse ebenso in den Startlöchern. Mandelbrots Geometrie der komplexen Strukturen wird schon seit langen in der wissenschaftlichen Histopathologie eingesetzt. Gerade aktuell wurden Karzinomzellen als echte Fraktale erkannt, womit sich neue morphometrische Konsequenzen ergeben werden. So wird einem unregelmäßigen Tumor ein fraktaler Messwert zugeordnet werden können, der wesentlich genauer die Feinmorphologie beschreiben kann als es je eine herkömmliche euklidisch-lineare Abmessung vermag. Ob dies prognostisch relevant werden wird, gilt noch zu ermitteln. Die Genauigkeit im Messverfahren wird allerdings jedenfalls deutlich angehoben werden. Vereinfacht: Ein 1cm im Durchmesser großer sternförmiger Knoten kann damit von einem exakt gleich großen runden Tumor in Form und Matrixstruktur messtechnisch unterschieden werden. Resultate dieser Kenntnisse werden Hinweise für verborgene Wachstumsalgorithmen erbringen. Die virtuelle Wachstumssimulation von Tumoren rückt damit immer näher und wird das bessere Verständnis von tumorbiologischen Prozessabläufen ermöglichen.

All das zeigt uns, dass seit der Erfindung des Mikroskops durch Antoni van Leeuwenhoek und der Zellularpathologie Virchows, die morphologische Phänomenologie zunehmend von der digitalen Welt ergänzt wird. Eine faszinierende Reise, die aber auch materielle wie personelle Ressourcen fordert. Der Trend zur Automatisierung aufgrund der notwendigen Bewältigung großer Fallzahlen wird dadurch begünstigt, dennoch wird es die beste komplex-integrativ tätige „Maschine“ – den Menschen – nicht ersetzen können. Dies auch, wenn sich auch manch unserer Verwaltungsmanager ein Krankenhaus ohne Personal wünschten, um den teuersten Parameter, die MitarbeiterInnen, eliminieren zu können. So gilt es die Grätsche zwischen Ökonomie und Qualitätsanspruch zu meistern, ohne sich zu zergliedern. Quantentechnische Medizin oder Rückkehr zu autoptischen Renaissancefossilien einer paläopathologischen Heilkunde ohne Willen zum Investment – was wird kommen? Die Zukunft wird es uns wohl weisen!

Roland Sedivy (* 9. Mai 1963 in Wien) ist ein österreichischer Universitätsprofessor für Pathologie, Medizinrechtsexperte, Autor sowie Lebens- und Sozialberater. Sedivy war von 2007 bis 2016 Leiter der Klinischen Pathologie des Landesklinikums St. Pölten und bis 2019 stv. Chefarzt der Kantonspathologie Münsterlingen (Schweiz). Danach bis 2023 Vorstand des Instituts für Klinische Pathologie, Molekularpathologie und Mikrobiologie der Klinik Favoriten, dem früheren Kaiser Franz Josef-Spital, einem akademischen Lehrkrankenhaus der Medizinischen Universität Wien. Zeitgleich auch Vorstand des Institutes für Pathologie und Mikrobiologie der Klinik Landstraße (früher Rudolfstiftung). Außerdem war er von 2011 bis 2015 Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Klinische Pathologie und Molekularpathologie. Als Universitätsprofessor war Sedivy an der Danube Private University in Krems im Fach Allgemeine Pathologie und Oralpathologie und an der Karl Landsteiner Universität in St. Pölten für Klinische Pathologie tätig. Seit 2019 lehrt Sedivy an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien und wurde 2023 auf den Lehrstuhl für Klinische Pathologie und Molekularpathologie berufen.