Das Gewebearchiv – Schatz der Pathologie

Der PathoBlogger

Ärztemagazin Mai 2011

Wir schreiben das Jahr 1965. Logbucheintrag vom Dezember: Mombasa 15/12 0600-16/12 1700.

Ein junger Matrose geht an Land und kehrt mit einem heimtückischen Geheimnis zurück an Bord. Elf Jahre später rätselt eine norwegische Kleinstadt über das sonderbare Schicksal einer Familie: nach zahlreichen unklaren Infektionserkrankungen, unklaren Lymphdrüsenschwellungen und eigenartigen Beingeschwüren stirbt ein 9-jähriges Kind, eine Woche danach ihr Vater, ein halbes Jahr später die Mutter. Der behandelnde Arzt war ratlos, verwahrte aber Blutproben der Familie im Trockeneis – einfach aus einem Bauchgefühl heraus. Zehn Jahre später begegnete der Arzt in Oslo der Entdeckung einer neuen Krankheit. Die Symptome erinnerten ihn an „seine“ Familie, von welcher er Serum konserviert hatte. Aufgeregt ließ er das Blut darauf testen. Bingo! Antikörper gegen das HI-Virus waren nachweisbar!

Eine Geschichte, die romanhaft klingt, sich aber in The Lancet nachlesen lässt, wie durch die intuitive Weitsicht eines Arztes die Hintertür der modernen Lustseuche nach Europa aufzuspüren war. Während dieser Fall auf eine Einzelinitiative zurückgeht, ist das Archivieren von Gewebeproben in der Pathologie systemimmanent. Dreißig Jahre werden die in Wachs eingebetteten Präparate im Keller der Institute für Pathologie gelagert. Pure Sammellust? Nein! Ein Grund ist, dass sich ggf. der diagnostizierende Pathologe gegenüber der Behauptung eines Falschbefundes freibeweisen muss. Der zweite Grund ist nicht minder wichtig. Etliche Malignome sind heute lange Zeit als chronische Krankheit beherrschbar. Es ist nicht mehr so selten, dass die Therapie des Primärtumors mehr als ein Jahrzehnt zurückliegt.

So kam es, dass nach 27 Jahren eine Patientin mit Z.n. Mammakarzinom einzelne Knochenmetastasen aufwies und eine histologische Abklärung ablehnte. Ein forensisches Dilemma: Selbstbestimmungsrecht des Patienten versus haftungsrechtliche Verantwortung des Arztes. Der Ausweg kann hier heißen, den prädiktiven Marker am Präparat des Primums zu bestimmen und die Patientin aufzuklären, dass dennoch das Ergebnis nicht hundertprozentig mit dem metastasierten Zellklon übereinstimmen muss. So kann das Potenzial einer zielgerichteten Therapie ausgetestet werden und dem Patientenwillen entsprochen werden. Genauso lassen sich neue hereditäre Defekte am archivierten Material bestimmen. Kürzlich wurde sogar paläopathologisch im Gewebe von Tutanchamun die Malariadiagnose gestellt.

Konserviertes Gewebe ist damit wie der legendäre Schatz des Priamos – verborgen und enorm wertvoll.

Roland Sedivy (* 9. Mai 1963 in Wien) ist ein österreichischer Universitätsprofessor für Pathologie, Medizinrechtsexperte, Autor sowie Lebens- und Sozialberater. Sedivy war von 2007 bis 2016 Leiter der Klinischen Pathologie des Landesklinikums St. Pölten und bis 2019 stv. Chefarzt der Kantonspathologie Münsterlingen (Schweiz). Danach bis 2023 Vorstand des Instituts für Klinische Pathologie, Molekularpathologie und Mikrobiologie der Klinik Favoriten, dem früheren Kaiser Franz Josef-Spital, einem akademischen Lehrkrankenhaus der Medizinischen Universität Wien. Zeitgleich auch Vorstand des Institutes für Pathologie und Mikrobiologie der Klinik Landstraße (früher Rudolfstiftung). Außerdem war er von 2011 bis 2015 Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Klinische Pathologie und Molekularpathologie. Als Universitätsprofessor war Sedivy an der Danube Private University in Krems im Fach Allgemeine Pathologie und Oralpathologie und an der Karl Landsteiner Universität in St. Pölten für Klinische Pathologie tätig. Seit 2019 lehrt Sedivy an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien und wurde 2023 auf den Lehrstuhl für Klinische Pathologie und Molekularpathologie berufen.